Der auch als ‚der letzte Romantiker‚ bezeichnete Schriftsteller Helmut Krausser hat in diesem Wintersemester die von Professor Jahraus wiederbelebte Poetikprofessur der LMU München inne und gestern, am 08.11.2007, fand die erste von drei Lesungen statt.
Vor zehn oder elf Jahren war ich schon einmal auf einer Lesung Kraussers, in einer kleinen städtischen Bibliothek in München und ich bin mir nicht mehr sicher, ob er aus Thanatos oder aus der Hagen–Trinker–Trilogie gelesen hat. Ich ging noch zur Schule, war – wie ich gerade beim Blick in meinen Bücherschrank festgestellt habe – zu schüchtern, um mir ein Autogramm zu holen und er saß da, trug – wenn ich mich recht erinnere – eine Lederjacke und sprach vor allem davon, wann denn das Buffett eröffnet werde und es endlich etwas zu trinken gebe. Ansonsten blieb er anständig, seine Ausstrahlung aber war die erotische eines typischen Draufgänger-Trinker-Dichters à la Bukowski.
Jetzt sitzt er in diesem ziemlich großen Hörsaal der Ludwig Maximilians Universität München, es sind ziemlich viele Leute da und diesmal trägt er ein weißes Hemd mit feinen, dunklen Streifen und eine schwarze Jacke dazu, keine Anzugsjacke, aber beinahe, die Geheimratsecken sind größer. Und er wirkt nervös, beißt sich auf die Lippen, als er vorgestellt wird, trinkt immer wieder Wasser, lächelt nicht und sieht zwischendurch etwas ratlos in die Runde, wenn er nicht ohnehin den Kopf gesenkt hält. Und auch als ihm das Wort überlassen wird, tritt er nicht ans Rednerpult, er bleibt sitzen, auf derselben Höhe wie die Zuschauer und beginnt mit einer Entschuldigung: die Vorlesung zum Thema ‚Pathos und Präzision‘ sei ihm viel zu lang geraten, er habe kürzen müssen, der zweite Teil werde das nächste Mal vorgetragen. Rhetorisch nicht eben gelungen, den Vortrag entschuldigend zu beginnen, aber es macht ihn sympathisch.
Der Herr Poetikprofessor versteckt sich fast, von hinten kann man ihn sicher nicht gut erkennen, aber ich sitze vorn und sehe, wie er zwischen Halbsätzen mit den Zähnen zu mahlen scheint, seinen Kiefer bewegt, beinahe als würde er kauen und mit der Zunge unter Ober- oder Unterlippe wühlt. Er erwähnt den Begriff Aposiopese, fragt nach, ob dieser bekannt sei, fährt dann aber unbeirrt und ohne Erklärung fort in seiner Rede. Für den Zuschauer kommt es zu einer seltsamen Verdoppelung des Autors, denn hinter ihn ist groß das Ankündigungsplakat der Vorlesung an die Wand projiziert, mit seinem Abbild in schwarz-weiß. Dort oben blickt er intensiv, aus unbebrillten dunklen Augen, erotisch aufgeladen, beinahe hypnotisierend, die Geheimratsecken sind weggeschnitten, unten blickt er kaum aus seinem Manuskript auf und hinter seiner Brille hervor.
Aber Helmut Krausser ist witzig – von Anfang an – und wird mit jedem Absatz sicherer, fühlt sich sichtlich wohler, als er sich ein wenig von der Theorie entfernt und statt dessen literarische Texte vorliest, er blüht auf, legt Wärme und auch ein wenig Pathos in seine dunkle Stimme, wird lauter und lebendiger. Er feiert das Pathos nicht, aber er befürwortet es besonnen, möchte es wieder aufgenommen wissen ins Repertoire stilistischen Handwerkszeugs, gerne gepaart mit Ironie, verteidigt es gegen Kritiker, die nur noch Textökonomie unterstützen und Klarheit. Pathos sei eine Übertreibung und Verdeutlichung, eine Unterstreichung der Wichtigkeit, ein Schritt an die Kante, bewege manche Menschen, während es für andere nur schwer erträglich sei. Kinder und Jugendliche würden magisch vom Pathos angezogen, es scheine etwas natürliches zu sein, was den Menschen erst später ausgetrieben werde. Und schließlich: Kunst ohne Pathos sei unmenschlich und blutleer.
Nebenbei streut Helmut Krausser noch jede Menge Aphorismen, hier nur eine Auswahl: mit Verweis auf Friedrich Schillers Die Verschwörung des Fiesco zu Genua sagt er, dass ein Text immer selbst Schuld trage an seinem Nachleben; von der Seele behauptet er, dass sie existiere, weil das Wort Seele existiere. Umwege (auch beim Schreiben) erhöhten die Ortskenntnis, meint er. Künstlern vorzuwerfen, sie würden zu weit gehen, sei ähnlich, wie Bäumen eine zu große Standorttreue vorzuhalten. Er wundert sich, dass Autoren oft vermieden etwas zu behaupten, denn um am Ende Recht zu behalten, müsse man schließlich zuvor etwas behauptet haben und jeder Autor wolle schließlich Recht behalten.
Im zweiten Teil des Vortrages liest Helmut Krausser aus seinem Roman Thanatos, mit dem er sich – hinsichtlich des Pathos – am weitesten vorgewagt habe, wofür er von verschiedenen Kritikern auch ‚auf die Finger‘ bekommen habe. Er meint jedoch, dass sich dieser Roman nicht die Romantik einverleibe, sondern sich in die Romantik einverleibe und hält ihn durchaus für einen parodistischen Roman, auch wenn die Parodie an keinem Punkt genau festzumachen sei. Nach einer wundervollen Lesung der Mordtat in seinem Roman verbeugt er sich mit auf dem Rücken gekreuzten Händen, zum ersten Mal vor seinem Publikum stehend.
Auf die nächste Lesung, die am 29.11. wieder an der LMU stattfinden wird (die dritte Lesung dann im Münchner Literaturhaus), bin ich sehr gespannt, nein: ich freue mich darauf. Mal sehen, ob ich für die Tagung bzw. das Kolloquium Helmut Krausser und die Gegenwartsliteratur der Romantik vom 06.-08.12.2007 im Literaturhaus Zeit finden werde, das Programm liest sich jedenfalls sehr spannend.
Hier geht es inzwischen zu Krausser II und Krausser III.
1 Comment for “Krausser I”
Die Sprachspielerin » Herbstschmerz | Literarischer Blog
says:[…] könnte ja meinen, ich sei in vorauseilendem Gehorsam und mit wehenden Fahnen in Helmut Kraussers literarisches Lager der Pathetiker (und bitte nicht: Pathologen) übergelaufen, aber das ist […]