Es gibt ja immer wieder diese traurigen Gestalten (nein, ich meine nicht Don Quijote), die ganz allein durch die Straßen einer Stadt laufen und murmelnd oder ziemlich laut Selbstgespräche führen. Das sind dann entweder Menschen wie der, der mir kürzlich ganz unvermittelt an einer Straßenecke zurief: "Nicht mit Negern schlafen!". Man lacht über sie, man hat Mitleid mit oder Angst vor ihnen, das hängt vom Typ ab, aber meistens geht man ihnen doch aus dem Weg. Die tragen sehr oft Plastiktüten mit sich herum.
Oder es sind solche, die stattdessen Aktentaschen und Anzüge tragen und bei denen man auf den zweiten Blick am Knopf im Ohr erkennt: die sind harmlos, die beißen nicht, die telefonieren nur. Auf den ersten Blick wirken die aber oft ähnlich befremdlich und aus der Welt, vor allem wenn sie nicht nur laut sprechen, sondern dazu auch noch raumgreifend gestikulieren. Man kann sie sehr leicht mit ersteren verwechseln.
Jetzt habe ich mich – bei allem Respekt – gefragt, ob das nicht ein Therapieansatz sein könnte: diese traurigen Gestalten, die laut mit sich selbst sprechen, allesamt mit Headsets auszustatten, damit es immerhin so wirkt, als seien sie ziemlich normal, als telefonierten sie nur? Wäre das nicht im Sinne einer sozialen Wiedereingliederung? Das Kabel vom Ohr müsste ja nicht einmal zu einem Handy führen, es reichte völlig, wenn es in irgendeiner Tasche verschwände (möglichst nicht in der Plastiktüte).
Dunkle Anzüge wären auch nicht schlecht, aber so ein Knopf im Ohr auf jeden Fall ein Anfang, manche Geschäftsleute ziehen sich ja auch schonmal etwas hipper an. Vielleicht würde man die traurigen Menschen dann für abgefahrene Profis aus der Werbung halten: man hätte jedenfalls keine Angst mehr vor ihnen, würde nicht mehr über sie lachen, man ginge ihnen nicht mehr aus dem Weg, höchstens Mitleid hätte man noch ein bisschen.
Oder sollte man doch lieber die, die meinen, andauernd mit Headset auf der Straße wild gestikulierend telefonieren zu müssen, zum Psychiater schicken?
Ich bin mir da nicht so sicher.
Nachtrag: neben der Forderung ‚Headsets für alle‘ tauchen jetzt auch Vorschläge für eine umgekehrte Camouflage auf, Bjoern empfiehlt hier in den Kommentaren etwa den Geschäftsmännern ein Deo mit der Duftnote ‚Leben auf der Straße‘ und Marc ruft in der Wissenswerkstatt zur Arbeit an einer "Entschubladisierung der Welt":
Wie wäre es, wenn Geschäftsleute zum Businessmeeting ihre Unterlagen in der ALDI-Tüte transportierten? […] Wann kommt der erste Professor mit lackiertem Bürstenhaarschnitt in die Uni? […] Liebe Studenten, steht früh auf, noch bevor das Morgenkäuzchen schreit, wascht & rasiert Euch, holt den Konfirmandenanzug aus dem Schrank und geht hinaus in die morgendliche Welt und endeckt und fühlt, wie ihr angesehen und behandelt werdet – wie ein neuer Mensch?
Wie mir ein Dozent vor einigen Tagen erzählte, reichen tatsächlich schon kleinere Sabotageakte, um die Erwartungen anderer gründlich zu verwirren: da tauchte nämlich ein anerkannter, geradezu berühmter Professor (die man sich ja wie Gelehrte traditionell bleichgesichtig vorstellt) auf einer Tagung auf und war tief braungebrannt. Die Reaktion war ganz eindeutig: "Was, der hat all diese tollen Bücher geschrieben? Das kann doch gar nicht sein!"
Weitere Vorschläge zur Sabotage an der ‚Schubladisierung der Welt‚?
7 Comments for “Knopf im Ohr”
Wissenswerkstatt | Anti-Diffamierungskampagne » Headsets für alle | kurz&knapp 16
says:[…] Sprachspielerin entzückt mit einem wunderbaren Vorschlag, der gleichzeitig eine Entstigmatisierung der latent Verrücktgewordenen, der marginalisierten […]
Bjoern
says:Vielleicht sollte man die Anzugträger mit einem „Leben-auf-der-Straße“-Deo ausstatten, damit sie ein bischen mehr vom Leben lernen.
(Obwohl ein schwarzer Anzug immer noch gut aussieht)
Chrizzo
says:Nette Idee und wäre ich noch Studentin so würde ich direkt mit machen. Als Mami aber ins enge Kostümchen und damit auf dem Spielplatz im Sand hocken? Oder mit hohen Hacken hinter dem kleinen Mann auf das Klettergerüst klettern? Och näääää! 😉
Norman Liebold
says:Ich bin leider etwas zu gestresst (wie Du/Sie nach Lektüre bei mir drüben nachvollziehen werden können), um ein wirklich adäquaten Kommentar abgeben zu können. So bleibt mir nur das grinsende Nicken abgesichts paralleler Beobachtungen und der penetrante Verweis auf eigene Gedanken (Wider den Wahn der Erreichbarbeit), die dieses Mal Statthalter sein sollen für direkt auf den Beitrag bezogene Gedanken. Zumindest soviel, daß ich Deinen/Ihren Blog seit ich auf ihn gestoßen wurde, mit großem Vergnügen lese (selbst jetzt!). Insbesondere die Alltagsbeobachtungen finde ich ausgesprochen schön hingeschaut.
Sprachspielerin
says:Herzlichen Dank! Schreibe gerade an einer nächsten (Alltagsbeobachtung), die auch ein kleines bisschen mediävistisch sein wird, am Rande…
Norman Liebold
says:Si enim fallor, sum. (Augustinus. De civitate dei, XI. 26)
Die Sprachspielerin » Außer Kontrolle | Literarischer Blog
says:[…] unbegründete Furcht, in Bibliotheken oder an anderen ganz stillen Orten, plötzlich laut zu sprechen oder laut zu lesen oder überhaupt ein unkontrolliertes Geräusch von mir zu geben, ohne es […]