Und ich habe nichts zu sagen. Es ist nur so, dass mir die Sprache immer noch am nächsten ist, nichts weiter. Die Worte umschwirren mich wie eine Wolke aus Millionen von Mücken und mein Geist muss nur nach ihnen greifen und sie sortieren und sie verwirren und mit ihnen spielen. Ich habe nichts zu sagen, nichts zu erzählen, ich will nichts erklären, nichts lehren und nichts verändern. Mein Leben ist eines von vielen, ich bin eine von vielen. Da ist eben nur diese Wolke, die es mir nahelegt, mit ihr zu spielen und zu schreiben. Diese Wolke aus Worten, die mich umgaukeln. Die mich verwirren und die mich auch trennen von der Welt. Das bleibt nicht aus. Ich träume, also bin ich nicht, ich lausche den Worten um mich, also bin ich nicht, ich spiele mit den Worten um mich, also bin ich nicht, ich bin selbst eine Wolke aus Worten.
Dauernd das Surren der Adjektive um meinen Kopf, das Dröhnen der Substantive, das Schwirren der Verben, der Zickzackkurs der Partikeln. Dauernd dieses Flüstern und Raunen, ein Knistern und Zirpen, ein Sirren und Zischen, ein Hauchen, Hecheln und Atmen, ein Schnurren, Schluchzen und Glucksen, ein Gurren und Zwitschern, ein Rauschen, Rieseln und Rattern, ein Knirschen und Quietschen, ein Scharren, Krächzen und Krähen, ein Winseln, Fauchen, Pfeifen und Röcheln, ein Ächzen, Knacken und Knattern, ein Rascheln, Glucksen und Kichern, ein tiefes Klingen und Schwingen, ein rauhes Rufen und gesättigtes Stöhnen, ein erstickter Schrei manchmal, ein Winseln, Fauchen und Jaulen, ein Jammern, Heulen und Schreien, ein Jauchzen, Jubeln und lautes Lachen. Die Worte halten nicht still, bleiben nicht ruhig, sie flattern, flirren und züngeln an mir und hüllen mich so ein in ihr aufgeregtes Umherfliegen, schreien mir in die Ohren. Sie liegen wie Dunst um mich, wie Nebel, wie Watte, die mich verpackt, wie eine Glasglocke, die mich abschottet, wie ein Meer, das mich endlos umrauscht, wie eine Mauer, wie eine Feuerwand.
Das ist der einzige Grund zu schreiben. Ich kann mich auf nichts sonst konzentrieren. Ich kann nicht sprechen und nicht zuhören, weil diese Wolke aus Worten jedes gesprochene Wort übertönt. Ich kann mit nichts sonst umgehen als mit Worten und mir nichts sonst merken. Vielleicht ist es noch nicht bedenklich, dass ich die Geburtstage meiner Eltern nicht kenne, erstaunlich ist aber, dass ich meinen eigenen einfach nicht behalten kann. Mein Glück war, dass ich schon im Kindergarten ein Mädchen kennenlernte, das genau am selben Tag wie ich geboren worden war. Immer wenn ich von anderen Kindern gefragt wurde, wann mein Geburtstag sei bzw. diese Frage im Rufen der Worte um mich her erahnte, verwies ich sie nach einem kurzen, unangenehmen Moment, in dem mir mein Unwissen schmerzlich bewusst wurde, einfach an meine Freundin, die ohne weiteres Auskunft geben konnte. Mit ihr verstand ich mich stumm. Sie blieb meine Freundin und Klassenkameradin, ohne sie wäre meine Schullaufbahn – vor allem in sozialer Hinsicht – wohl anders verlaufen.
Denn eben so wenig wie Geburtstage konnte ich mir schon immer Namen ins Gedächtnis rufen, nichts half, ich sah nur Gesichter, die mir bekannt vorkamen, aber in diesem Moment stürzten derartig viele mögliche Namen aus der mich umschwirrenden Wortwolke auf mich ein, dass ich mich unmöglich entscheiden konnte. Dann fragte ich meine Freundin, manchmal nur mit einem Blick. Sie flüsterte mir ins Ohr, nur Worte, keine ganzen Sätze, denen ich nicht hätte folgen können. Wenn sie mit mir sprach, war ich durch nichts sonst abgelenkt. Sie stellte sich neben mich und sprach für mich, ich brauchte nur zu lächeln. Ich weiß nicht, warum sie mir über all die Jahre erhalten blieb und mir nicht den Dienst quittierte und die Freundschaft kündigte. Heute denke ich, dass sie nie etwas zurückbekommen hat für ihre für mich so kostbaren Dienste. Dennoch blieb sie einfach an meiner Seite. Vielleicht war sie schlichtweg fasziniert von meiner Skurrilität, nur angezogen von dem Gedanken, wie sehr sie mir in vielerlei Hinsicht überlegen war. Vielleicht mochte sie mich gar nicht. Vielleicht hatte sie sich über die Jahre einfach an mich und an ihre Unabdingbarkeit für mein Leben gewöhnt.
Zu Schulzeiten fiel es nicht weiter auf, dass ich mich nie ohne sie in Gesellschaft begab, dass ich mit ihr tuschelte, um mich an wichtige Informationen über Menschen zu erinnern, die ich eigentlich längst hätte kennen müssen. Ich weiß nicht, wie das ihr und anderen Menschen gelingt. Sind ihnen die Worte nicht so nah wie mir, halten sie einen größeren Abstand? Oder sprechen sie nur nicht so laut mit ihnen? Raunen die Worte den anderen nur ganz leise ins Ohr und sind so eine Hilfe und Unterstützung, während sie bei mir so viel Lärm schlagen, dass sie alles andere übertönen? Ich kann mich auf kein Gespräch konzentrieren, ich kann Menschen einfach nicht dauerhaft zuhören. Und das nicht, weil ich sie für unsympathisch hielte – ich bin kein Misanthrop und Kulturpessimist, der der Meinung wäre, heutzutage seien alle Menschen dumm und redeten nur blödes Zeug.
Nein, oft möchte ich Menschen wirklich zuhören, sie sind mir angenehm, sie schmeicheln meinen Augen, ich mag ihren Geruch und bin ehrlich interessiert an ihnen. Aber ich kann nicht, ich kann einfach nicht. Wenn ich es versuche, dann beginnt sich langsam ihr Gesicht von ihrer Stimme zu trennen, auf eine grausame Weise schält sich für mich Haut, Nase, Augen und der sich bewegende Mund von der Person. Das Gesicht löst sich für mich sichtbar ab von dem, was ich für ihr Selbst halte, ihr Gesicht wird zu einer Maske, die sich komisch bewegt, die Augen leer und tot, ohne Person dahinter, ihre Stimme wird dann unverständlich für mich. Die Stimme kommt nicht mehr aus dem Menschen, dessen Totenmaske ich sich vor mir bewegen sehe, sondern wird zu einer metallenen Automatenstimme. Ich kann den Sinn ihrer Worte dann einfach nicht erfassen, die Worte um mich beginnen lauter zu flirren und schließlich zu schreien und ich muss mich erschreckt abwenden.
Ich erinnere mich noch an viele Gespräche mit meiner Freundin an meiner Seite, sie unterhält sich normal mit anderen und ab und zu flüstert sie mir Dinge ins Ohr, mit wem ‚wir‘ da sprechen, wie sie heißen, was sie machen, woher ich sie kennen müsste und ich versuche die Worte dieser Menschen zu verstehen, die gegen die mich umgebende Wortwolke anschreien, ohne es zu wissen und zu bemerken. Ich versuche so sehr zuzuhören, aber dann sehe ich wieder die Masken, in die sich ihre Gesichter verwandeln und ich muss mich abwenden, ich muss wegsehen und ich muss weghören, um diese Trennung von Mensch und Stimme, von Person und Gesicht ertragen zu können. Damit sind Gespräche zumeist beendet, die Wortwolke hat mich wieder.
Weghören ist dafür etwas, was ich ausgesprochen gut beherrsche. Stimmen anderer kann ich immer einfach ausknipsen, ich nehme sie dann gar nicht mehr wahr, sie sind weit fort, ich bette mich in die Worte um mich wie in Watte, um nichts mehr zu hören als ihr Surren und Schwirren, um nur noch in Gedanken nach schöneren Worten zu suchen und schöne Sätze zu bilden. Ich tauche ein in meine Wortwolke und tauche unter darin, versinke in den Worten wie in einem Meer aus Watte, das mich abschirmt gegen die Welt. Meine Eltern verzweifelten daran, dass ich so gekonnt nicht zuhören konnte und wollte, meine Lehrer verzweifelten daran, dass ich ihre Stimmen ausknipste und den Unterricht zwar nicht störte, aber auch vollkommen teilnahmslos an mir vorübergehen ließ, nur mit mir selbst beschäftigt oder lesend.
Lesen hatte ich mir schon mit vier Jahren selbst beigebracht und Lesen war meine Rettung. Lesen ermöglichte es mir nicht nur, trotz allem einigermaßen gute Leistungen in der Schule zu erreichen, obwohl ich nicht zuhören konnte. Ich las die Schulbücher und die Hefteinträge meiner Freundin und die Tafelanschrift und sonst alles, was mir in die Hände fiel. Mündlich hatte ich immer schlechte Noten, weil ich die Fragen nicht verstand und weil ich mich im Lärm meiner eigenen Antworten verhedderte. Aber schreiben konnte ich und schriftlich gehörte ich so in den meisten Fächern zu den besten. Das bewahrte mich auch vor der Sonderschule oder Fördermaßnahmen, die bei mir keinerlei Sinn gehabt hätten. Ich galt einfach als hochbegabt und komisch und irgendwann wollte mir niemand mehr helfen.
Lesen und Schreiben waren aber auch sonst die Rettung für mich. Wenn ich die auf Papier gestreuten Buchstaben mit den Augen verfolge oder wenn sich nur die Spitze meines Stiftes dem Papier nähert, dann ist es, als würde die Wolke an meiner Seite niedersinken, als würden die Worte neben mir zu Boden fallen wie dunkle Schneeflocken. Schwarz auf Weiß verstummt jedes sonstige Geraune und Gekicher, alles Flüstern und Schreien der Worte um mich. Es genügt die Annäherung meines Stiftes an das Papier und die Konzentration vor dem Ansetzen, es genügt das Aufklappen eines Buches und die Annäherung meiner Pupillen an die Schriftzeichen und alles wird still. Ich konnte ganz meisterlich lesen und schreiben und ich tat es wann immer ich konnte. Die Stille ist herrlich. Ich schwelge im Schweigen der Worte um mich, bei gleichzeitiger Konzentration auf andere, die ich lese, die ich schreibe, die ich dadurch aber kontrolliere. Die nur aufstehen und sprechen, wenn ich sie dazu auffordere, die sich nur zu Wort melden, wenn ich es will, die sich meinem Willen unterwerfen und nicht vor sich hinschnattern und rattern, ohne dass ich es beeinflussen kann. Die sich meinem Willen und meiner Vorstellung von einem Satz beugen. Wie gesagt, so bald ich dazu fähig war, las und schrieb ich so oft ich konnte. Dann war und bin ich glücklich. Einfach nur zufrieden und ich selbst. Bei mir und nicht getrennt. Dann bin ich nicht betäubt. Pures Bei-Sich-Sein, pures Glück.
Meine Pubertät war eine etwas unglücklichere Phase. Ich verliebte mich und wusste noch nicht um die Probleme, zu denen dies in meinem speziellen Fall führte. Ich verliebte mich in Jungen oder Mädchen, die ich sah, wenn ich vom Schreiben aufblickte. Wenn dann mein Blick für einen kurzen Moment auf einen mir schön, makellos erscheinenden Menschen fiel, egal ob männlich oder weiblich, dann verliebte ich mich sofort oder tat das, was ich dafür hielt. Ich verliebte mich in jeden schönen Menschen, den ich traf, egal welchen Alters, und ich versuchte daraufhin jedesmal sofort, mich ihnen schreibend anzunähern. Nach jenem kurzen Aufblicken und dem Moment des Verliebens während des Schreibens begann etwas, was man nur als ‚Andichten‘ bezeichnen kann. Ich senkte dann den Blick wieder, bevor das Surren der Wortwolke noch einsetzen und meine Ohren betäuben konnte und begann, die erblickte Person mit Metaphern zu belegen, so viele mir nur einfielen, sie zu beschreiben wie ich sie in jenem kurzen Moment wahrgenommen hatte, wie ich sie eingesogen hatte in jenem kurzen Augenblick des Schweigens der Worte. Um die Wolke, die mich von der Welt und damit auch von dem von mir geliebten Menschen trennen konnte, am neuerlichen Aufsteigen zu hindern, schrieb ich wie besessen los, schrieb ich alles nieder, was mir zum Geliebten einfiel. Ich schwelgte im Schreiben, im Andichten des Geliebten und schwelgte zugleich im Schweigen jenes Wortmeeres, dessen Rauschen sonst die Liebe vergessen gemacht hätte.
Dieses Vorgehen hatte niemals den gewünschten Erfolg. In sehr seltenen Fällen vergaß ich, blind und stumm vor Liebe, bei einem erneuten Auf- und Erblicken der geliebten Person das Schreiben, ich starrte sie einfach nur an, während sich die Worte wie Wände langsam wieder um mich erhoben. So vertieft war ich dann in den Anblick, dass ich die Worte erst bemerkte, wenn sie wieder über meinem Kopf zusammenschlugen und jede Interaktion, geschweige denn Kommunikation, unmöglich machten. Wenn mich die Geliebte jetzt ansprach, dann konnte ich sie nur wie ein Wahnsinniger anblicken, ich schwieg, ich konnte nichts sagen, nicht zuhören, die Worte umtosten mich lauter denn je, brandeten auf im Rhythmus meines irrwitzigen Herzschlags und ich konnte mich nur, stumm zur Seite blickend und mich abwendend, in die geschriebene Sprache retten. Hatte mich das Geliebte aber einmal angesprochen, so war dessen Entzauberung vollzogen und alle Liebe dahin, ich hatte seine Maske gesehen und die grausame Leere dahinter und konnte nichts mehr Schönes an diesem Menschen finden. Eine peinliche, aber immer noch relativ schmerzlose Art des Liebens in jener Zeit.
Schlimmer war es, wenn ich den Geliebten andichtete und das Schicksal – oder ein gemeinsamer Klassenkamerad – die Ode an die Liebe jener Person in die Hände spielte. Die Begeisterung über mein Geschriebenes blieb meist aus, oft reagierten sie mit Wut oder Verachtung, jedenfalls nicht positiv auf die Verehrung durch mich sozialen Krüppel, der schwülstige Verse schrieb, aber zu einem Lächeln nicht fähig war. Eine junge Lehrerin, die ich im Unterricht andichtete und die mir dabei über die Schulter in mein Heft blickte, gab mir einmal eine Ohrfeige, rot vor Wut, vor der ganzen Klasse. Ich muss zugeben, dass meine Metaphern nicht immer dezent waren und dass ich mit ihnen gerne auch sinnliche Freuden jeder Art ausmalte. Dennoch überraschte mich die Vehemenz, mit der sie mir meinen Schreibblock aus der Hand riss, Seiten zerfetzte und die Überreste meines Schreibpapiers zu Boden warf, um auch noch darauf herumzutrampeln. Sie war noch schöner in jenem Augenblick. Und die Wortwolke schwieg einen Moment und ließ mich sie in völliger Verzückung ansehen. Sie war so empört über meinen Blick, dass sie mir noch eine Ohrfeige gab. Die schlimmste Art des Liebens zu jener Zeit. Noch lange war ich in diese Lehrerin verliebt, aber seitdem erwähnte ich dies mit keinem Wort mehr, ich schrieb nichts mehr über sie, sie blieb von mir unbeschrieben.
Ich dachte viel an Berührungen zu jener Zeit, an Haut und an Küsse, ich träumte davon, ganz im Gefühl aufzugehen, eine andere Person still zu streicheln. Nicht reden zu müssen, nichts hören zu müssen, nur zu tasten und zu spüren und zu küssen. Ich hatte die leise Ahnung, dass die Worte dann schweigen müssten, nur eine Weile lang.
In den allermeisten Fällen hatte meine Methode mich zu verlieben jedenfalls ausschließlich unerfreuliche Folgen. Selbst wenn meine unziemlichen Metaphern nämlich unentdeckt blieben, dann blieb andererseits auch meine Liebe unentdeckt und damit völlig folgenlos. Grund für unmäßiges Leiden. Hierin unterschied ich mich nicht einmal sehr von meinen Altersgenossen. Nur dass ich es sofort niederschrieb. Auf das Liebes-Sonett folgte ein japanisches Todesgedicht, auf ein verliebtes Madrigal eine Elegie des Leidens, auf die Hymne auf den Geliebten ein Klagelied, auf die Ode an die Freude der Text zu einem Requiem, meinem eigenen. Ich genoss den Schmerz aber viel zu sehr, um zu handeln und den Worten Taten folgen zu lassen, auch darin meinen Altersgenossen ähnlich.
All dies änderte sich erst, als ich zu studieren begann und ihn kennenlernte. Er gefiel mir auf den ersten Blick, als ich von meiner Vorlesungsmitschrift aufsah. Natürlich studierte ich lieber zu Hause die angegebenen Bücher, als in Vorlesungen zu gehen, aber diese Einführungsvorlesung im ersten Semester Germanistik war Pflicht. Was hätte ich auch sonst studieren sollen, die ich Literatur aller Epochen und Gattungen verschlang wie andere ihr Abendessen nach einem anstrengenden und entbehrungsreichen Tag? Für ihn war Germanistik nur ein Nebenfach, das er bald wieder aufgeben sollte, um sich ganz und gar der Hauptsache zu widmen: der Musik. Aber jetzt saß er vor mir und sah sich um, er wollte mich etwas fragen. Aber er verstummte sogleich wieder, als er meinen begeisterten und dennoch ängstlichen Blick auf sich spürte. Ich hatte solche Furcht, ihn sofort wieder zu verlieren!
Er war so schön! Er hatte blonde, kurze Locken und tiefgrüne, strahlende Augen, helle Haut und die allerfeinsten Gesichtszüge. Beim Sich-Umwenden hatte er eine Hand auf die Rückenlehne gelegt und ich sah seine unglaublich langen und feingliedrigen Finger, ich sah den zarten, blonden Flaum auf seinen schmalen Pianistenhänden, seine ganz kurzen Nägel, die minimalen Verdickungen an den Gelenken seiner Fingerglieder, die Sehnen die auf seinem Handrücken hervortraten und mit den bläulich durch die Haut scheinenden Adern spielten, die Eleganz seiner Handhaltung und ich war rettungslos verloren.
Und als erster muss er meine Hilflosigkeit und Furcht gespürt haben, denn er verstummte sofort wieder und auch er sah mich nur an, sprachlos. Er drehte sich wieder nach vorn und wie verzaubert blickte ich jetzt auf seinen Nacken, die seitlichen Muskelfasern, die sich beim Vorbeugen des Kopfes anspannten, auch sein Nacken unter den Locken blond beflaumt und diese unheimlich zarte, weibliche Haut, die ich nur noch berühren wollte. Er schrieb etwas. Riss dann ein Eck Papier aus seinem Schreibblock, drehte sich zu mir – langsam – und gab mir das Zettelchen, auf dem nur ein Wort und ein Satzzeichen zu lesen waren: „Nachher?“ Und ich, wie erlöst, brauchte nur noch zu nicken, nicht zu sprechen, nichts zu fragen, nichts zu antworten.
Mit dem Rest der Vorlesung folgte die längste Stunde meines Lebens, in der ich ihm nur auf den Nacken sah und auf seine Hände, wie sie schrieben. Niemals hatte ich jemanden mit so schönen Bewegungen schreiben sehen, seine Kinderschrift auf das Papier setzen sehen, niemals so schöne Finger so elegant einen Stift führen sehen, niemals so sehr nur dem Kratzen einer fremden Feder auf dem Papier gelauscht. Und die mich umschwirrenden Worte schwiegen. So sehr war ich in seiner Bewegung, in seinem Schreiben, dass sie nicht wagten, meine Beobachtung zu unterbrechen. Das Schweigen der Worte kam durch sein Schreiben, durch ihn, zu mir hinüber.
Nach der Vorlesung packten wir synchron mit einer unheimlichen und eifrigen Geschwindigkeit zusammen, er nahm mich mit größter Selbstverständlichkeit an der Hand und führte mich, die ich ihm um ein weniges nachfolgte, wortlos hinaus. Neben mir, zwei Köpfe größer als ich, ein großer Mann und doch kindlich mit der Länge seiner Glieder, mit der Schlaksigkeit seiner Bewegungen, mit seiner nicht ganz schlanken Statur und dem jungenhaften Blond, dem Sprühen seiner grünen Augen. Schräg von unten blickte ich zu ihm auf und ließ mich mitnehmen, sah nicht auf den Boden, nicht wohin wir gingen, stolperte ein wenig, hingerissen von ihm und von seinem immer noch andauernden Schweigen und vom Schweigen der Worte um mich. Er führte mich in einen anderen Trakt der Universität, in ein winziges, fensterloses Zimmerchen, vielleicht zwei Quadratmeter groß, in dem ein Klavier stand, zwei Stühle, sonst nichts. Er schloss die Tür hinter uns, immer noch hatte keiner von uns beiden ein Wort gesprochen, er nahm meine Hände in seine, ich fühlte sie knistern bei dieser ersten Berührung, für die Ewigkeit einer Sekunde sah er mir in die Augen, dann ließ er mich wieder los, wies mich mit einer Kinnbewegung zu einem der Stühle, auf dem ich mich niederließ und setzte sich selbst ans Klavier.
Er setzte sich ans Klavier und improvisierte und ich hörte ihm zu. Nichts sonst. Es gab nichts einfacheres, nichts klareres, nichts schöneres auf der Welt. Er begann zu spielen und ich verstand ihn sofort, ich verstand ihn um so vieles besser, als wenn er gesprochen hätte zu mir, selbst als wenn er mir geschrieben hätte, ich verstand alles, jedes Gefühl, jede Stimmung, jede Schwingung, jede Nuance seines Wesens, die Geschichte seines Lebens, alles lag direkt und klar vor mir, alles lag in seinem Spiel. Die Wortwolke sortierte sich unter seiner Musik, sie schwebte ganz ruhig und gemessen um mich her, langsam, leise, harmonisch, im Takt der Musik und ab und zu trat ein Wort ganz unaufdringlich hervor und sagte mir, was er mir gerade sagen wollte. Die Worte flogen in unheimlicher, leichter Harmonie um mich, so wie seine graziösen Hände über die Tastatur flogen. Ich musste nur zuhören und verstand und ich wusste, dass er wusste und empfand, wie sehr ich verstand. Wir hatten jedes Zeitgefühl verloren, nichts existierte mehr außerhalb dieses kleinen Raumes, nur er und ich und das Klavierspiel. Ich war ganz vertieft in ihn und die Worte, die ihn beschrieben, die er mir sagte durch die Musik, mit der er mir sich und die Welt erklärte, als er aufhörte zu spielen.
Wir liebten uns noch dort, auf dem Boden dieses kleinen, fensterlosen Musikzimmers, zu Füßen des Klaviers, das mir seine Geschichte erzählt hatte. Alles war so einfach und klar zwischen uns, aus der Einfachheit entstand Harmonie und aus der Harmonie Schönheit.
Ich kenne weder seinen Namen noch seinen Geburtstag. Er ist bald darauf bei mir eingezogen, und zwischen uns blieb alles so selbstverständlich. Will ich ihm etwas sagen, dann schreibe ich ihm, er liest und versteht. Die Alltagsfragen beantwortet er mir mit kleinen Zetteln: „Was willst Du heute essen?“, „Erdbeereis“ etwa oder „Ja, ich liebe Dich“. Will er mir mehr erzählen, setzt er sich ans Klavier und ich höre ihm zu. Es funktioniert. Wir verstehen uns. Wir akzeptieren uns gegenseitig in unserer Sprachlosigkeit und Fülle an andersartiger Sprache und Ausdrucksform. Auch er spricht nicht gerne, auch er kann sich anders besser ausdrücken: in der Musik, so wie ich im Schreiben. Meine Wortwolke beruhigt sich, wenn er spielt und sie schweigt, wenn er schweigt. Sie ist ganz stumm, wenn ich ihm stumm gegenüber stehe.
Und wenn ich ihn umarme und seine zarte, helle Haut mit blondem Flaum berühre, an meiner fühle, wenn ich seine schönen, schlanken Pianistenhände meinen Körper streicheln spüre, wenn sich unsere Lippen treffen und ein wenig öffnen, dann habe ich manchmal das Gefühl, als würde sich auch die Wortwolke ganz leise ein wenig öffnen und ihn einlassen zu mir, sich nicht mehr zwischen uns stellen, sondern die Arme um ihn breiten und um ihn legen, genauso wie ich es tue. Das Schreien der Worte wird zum Rauschen eines fernen Wasserfalls, das uns beide einschließt und vereint. Ich bin glücklich. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich bin absolut glücklich. Ich habe nichts zu sagen, nichts zu erklären, ich will nichts verändern oder verbessern. Alles ist perfekt.
1 Comment for “Die Sprachspielerin”
Tim
says:Total schön geschrieben 🙂 Ist da autobiographisch?