Wenn ich an Venedig denke, denke ich an die Weite des Wassers, an knisternde Kälte auf der Haut und eine anderswo unerreichte Klarheit der salzigen Luft, an einen Weitblick über Insel und Lagune bis zum Horizont. Nichts ist vergleichbar mit dieser labyrinthischen Stadt, umgeben vom Meer, der salzigen Gebärerin von uns allen. Es heißt: alle Städte ähneln einander, nur Venedig ist anders.
Wenn ich an Venedig denke, denke ich an die Pracht der Paläste und die Schönheit der verstecktesten Kirchen, an die Enge der Gassen und Weite der Plätze, an die Niedrigkeit der Sottoporteghe (Durchgänge) und die Höhe des Himmels. Wenn ich an Venedig denke, denke ich an stille, verborgene und winzige Hinterhöfe, in deren Mitte immer ein Brunnen steht. Wenn ich an Venedig denke, denke ich an Embleme mit dem geflügelten Löwen, Symbol für den Evangelisten Markus, das aufgeschlagene Buch zwischen den Tatzen und an die Schutzmantelmadonnen, die einem an jeder Häuserecke begegnen können: die winzigen Menschen in der Weite ihres Gewandes bergend.
Wenn ich an Venedig denke, dann denke ich an Gewässer: an die der Kanäle, die Venedig wie ein Spinnennetz durchziehen, an die unter den Brücken, von Gondeln durchstreift, an die, die an Treppenstufen lecken, auf denen sich manche Krabbe tummelt, an die weite, ganz glattgefegte Lagune und ans Meer, jenseits des Lidos. Und ich denke ans Hochwasser, das die Venezianer nicht weiter beunruhigt, die Touristen aber zum Tanzen bringt, barfuß in der Pfütze, die der Markusplatz geworden ist, Hunde- und Taubenexkremente glückselig vergessend.
Wenn ich an Venedig denke, denke ich an die Stille, eine Lautlosigkeit die aus der Autolosigkeit entsteht, nur stellenweise unterbrochen vom Dröhnen der Vaporetti und anderer Motorboote. Oft, gerade an den Rändern Venedigs, ist es aber einfach nur still, genüsslich lautlos. Wenn ich an Venedig denke, denke ich an die Lebhaftigkeit auf manchen Plätzen, an das Spielen der Kinder, mit dem Fußball immer gegen die Mauern der altehrwürdigen Kirchen donnernd, an den Brunnen trinkend, zankend und glücklich schreiend mit dem stützradgestützten Rad dahinsausend. Ich denke an diese Lebhaftigkeit der immer wieder totgesagten Stadt und freue mich daran, dass es nicht wahr ist: sie ist nicht tot.
Wenn ich an Venedig denke, dann denke ich an glutroten ‚Spritz‘, den Aperitif, den herb-süßen Geschmack des Aperols, an die eingetauchte, dicke, grüne Olive und an ein Tramezzino (diese Dreiecksbrötchen) mit Thunfisch und Silberzwiebelchen dazu. Ich denke an die Berge von kleinen, bunten Häppchen, die angeboten werden, an die Fleisch- und Fischklößchen, die frittierten Zwiebel- und Tintenfischringe, an die panierten, gefüllten Oliven, an Artischockenböden und süß-säuerliche Fischchen mit Rosinen und Pinienkernen. Ich denke daran, dass man immer noch eine Vorspeise bestellen kann, bis man völlig gesättigt ist.
Ich war lange nicht in Venedig, aber ich war so oft dort, dass ich einen inneren Stadtplan in mir trage, dass ich in Gedanken jederzeit Gassen und Plätze ablaufen kann und ahne, wie der Himmel dort ist und wie es dort riecht und weiß, welche Brücke, welche Abzweigung ich nehmen muss, um dorthin zu kommen, wo es besonders schön ist. Obwohl es in Venedig beinahe überall besonders schön ist, wenn man einmal von den Wegen, welche die Touristenströme nehmen, absieht.
Wenn ich mit dem Zug nach Venedig über die lange Brücke fahre, die einzige Verbindung zwischen Festland und Inselstadt, dann überwältigt mich beim ersten Anblick der in der Lagune schwimmenden Stadt regelmäßig ein Gefühl des Ankommens, der Befreiung, des Befreitseins von der Last des Landes, ein Loslassen, ein Aufatmen geht durch mich hindurch, ein warmes, befreites Glücksgefühl.
Jemand hat einmal gesagt: „Wenn es diese Brücke nicht gäbe, dann wäre Europa eine Insel“ und obwohl dies die Verhältnisse offensichtlich umkehrt, ist daran viel Wahres. Guillaume Apollinaire nannte Venedig „vulva umida d’Europa“ und obwohl auch daran viel Wahres ist, übersetze ich es jetzt nicht. Überhaupt höre ich auf, denn sonst wird die Sehnsucht zu groß und ich nehme den nächsten Nachtzug und verschwinde für immer. Genau jetzt wäre die richtige Jahreszeit dazu, um sich absichtlich in Venedigs Gassen zu verlaufen.
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