Wassermüde

Kennt ihr das, wenn ihr einem unbekannten Wort begegnet, ihr darüber nachdenkt, es nachfragt, nachschlagt, nachlest, um herauszufinden, was es bedeutet? Wenn ihr es dann wisst, das Wort wiederlest, bis euch das Wort selbstverständlich erscheint? Und kennt ihr auch das, wenn es dann noch einmal irgendwo steht und dieses Wort plötzlich das Sonderbare, das Wundersame des ersten Mals wiedergewinnt und euch fremd wird, angenehm fremd, so dass ihr wieder darüber grübeln, euch wundern könnt, das Wissen im Hinterkopf, aber doch so, als wüsstet ihr nichts?

So erging es mir mit dem mittelhochdeutschen Wort wazzermüede, einmal im Kommentar des Buchs die Bedeutung nachgelesen, dann immer wieder drüberhingelesen, ohne Stocken und dann doch einmal innegehalten dabei und mich wieder gewundert und gefragt und gefreut an diesem sonderbaren Wort.

Was könnte wassermüde eigentlich heißen? Wenn man sehr viel getrunken hat, so viel dass der Bauch schon gluckert bei jeder Bewegung oder wenn man ihn anstupst, so viel, dass man beim besten Willen nicht noch mehr Wasser trinken könnte? Oder heißt wassermüde einfach, dass man doch lieber zu Wein, Bier, Sekt oder Schnaps statt Wasser übergehen möchte am Abend? Und was bedeutet es, wenn man sich daran erinnert, dass auch Menschen zu einem Großteil aus Wasser bestehen? Sind Misanthropen einfach nur wassermüde, nicht menschenmüde? Und kann man dann das Fremdgehen rechtfertigen, mit diesem Wort und es wäre einem eben einfach nach einem Glas frischen Wassers gewesen, das müsse man doch verstehen können…

Und gibt es dann vielleicht auch luftmüde? Können Stewardessen unvermutet und unvorbereitet von einer Luftmüdigkeit ergriffen werden und dann einfach nur noch am Boden (oder zumindest auf dem Wasser) bleiben wollen? Oder bezeichnet luftmüde gar den Überdruss am Leben, die Unlust zu atmen, die Lebensmüdigkeit schlechthin?

Kann man dann auch landmüde sein? Vielleicht im Sinne von Tocotronic: Aber hier leben, nein danke, einer Ablehnung von jeglichem Nationalismus, eine Deutschlandmüdigkeit, der ich mich jederzeit anschließen würde, ja, ich bin landmüde.

Und dann fallen mir auch noch weitere Komposita mit -müde ein, die ganz gut auf mich passen: weihnachtsmüde etwa, aber das ist jetzt ja zum Glück abgehakt (und mancher kann in diesem Zusammenhang vielleicht auch von Essmüdigkeit berichten). Wintermüde und jahresmüde bin ich ebenfalls, aber es geht ja auch bald zu Ende, nur noch ein Weilchen… Das einzige, was ich wohl nie werde: sprachmüde, lesmüde, schreibmüde, wortmüde und kussmüde. Und schlafmüde leider auch nicht, ich kann so viel schlafen, wie ich will, es ginge immer noch länger, immer noch mehr.

Und was hat es nun mit wazzermüede tatsächlich auf sich? Wassermüde sind vor allem die Recken aus dem Heldenepos Kudrun immer wieder, wenn sie längere Seefahrten hinter sich gebracht haben (meist, um eine Braut zu erobern, zu entführen, zu erkämpfen), wenn sie also von der Schiffahrt erschöpft sind. Ganz einfach, ganz klar, ganz unromantisch. Da finde ich meine Erklärungen doch schöner.
Und wer mag, kann sich noch das Video zum wunderbar landmüden Song von Tocotronic ansehen:


Tocotronic – Aber Hier Leben Nein Danke – MyVideo

(und nein, die Platte heißt nicht ‚ERNUNFT DARF NIEMALS SIEGEN‘, obwohl das da steht…)

3 Comments for “Wassermüde”

Jowinal

says:

Wow, einfach nur wow. Ich bin mehr als beeindruckt von dieser klaren Sprache mit den noch glasklareren Fragen. Du schreibst so mitreißend, dass aus dem Katalog von Fragen der rote Faden nicht erst am Ende besticht. Erinnert mich in gewisserweise an Max Frischs Fragebogen, wobei ich dem Textfluss des Deinigen viel mehr Leidenschaft entnehme. 😉 Es macht einfach wahnsinnig viel Spaß Deine Texte zu rezipieren. Der reinste Lesegenuss mit nachhaltiger Wirkung! 🙂

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