Das Wellenschlagen des Meeres und das Anrauschen der Wogen, das Murmeln des Wassers und Raunen der See neben euch, die glühenden Schrägstrahlen der schon beinahe untergegangenen Sonne vor euch, der kühler werdende Sand, sich den Körperformen anschmiegend, unter euch und ihr liegt, liegt dicht beieinander. Das ist die perfekte Gelegenheit. Du gibst ihr den Joint noch einmal, den sie gerollt hat, mit ihrer Zunge das Papier befeuchtend, das Du beneidetest um die Berührung, der letzte Zug soll für sie sein. Mit geschlossenen Lidern saugt sie den Rauch in sich, berauschend, sie hält den Atem an, verschließt ihn tief in sich, doch während sie den Stummel im Sand ausdrückt, steigt ihr Dampf aus der Nase, wie aus den Nüstern eines erhitzten Pferdes. Auch sie ist erhitzt, von der untergehenden Sonne und vom Rausch und sie fragt sich einen Moment, ob das Schwanken tatsächlich von den dunklen Krümeln im Tabak kommt oder einfach von diesem wiederholten, angestrengten Luftanhalten.
Unterversorgung mit Sauerstoff, jedenfalls aber fühlt sie sich schwebend und nicht ganz von dieser Welt, obwohl sie die ganze Zeit ruhig und stetig am abendlichen Strand liegt, neben Dir, dicht. Es keimt Lachlust in ihr auf, es schüttelt und durchwühlt sie schon, es keimt Liebeslust in ihr auf, es durchpulst sie schon unruhig, ihr Blut an manchen Stellen. Ich sage es Dir nochmal, das ist die perfekte Gelegenheit. Denn ihr liegt schon und ‚Gelegenheit‘ kommt von ‚liegen‘, etymologisch gesehen, und diese Gelegenheit kommt Dir gelegen, worauf wartest Du, dichter rückt sie nicht mehr heran.
Früher bedeutete Gelegenheit ‚Lage‘ und ‚Lager‘, heute jedoch ‚Möglichkeit‘ und ‚Chance‘ und Du hast jetzt die Chance Deine Lage zu ändern, um euer Liegen in ein Liebeslager zu verwandeln, warte nicht mehr, es gilt die Möglichkeit zu nutzen in eurer angenehmen Lage, jetzt. Du lerntest sie an der Universität kennen und Du betetest sie an, vom ersten Augenblick an, Du liebtest es, hinter ihr zu sitzen und ihr schönes, glattglänzendes, rötlich schimmerndes Haar fallen zu sehen, wenn sie den Kopf schräg legte beim Zuhören und sie tat es immer beim Zuhören und Du liebtest es immer. Du hast Dich in die Schräglage ihres Kopfes verliebt und hättest ihre Sommersprossen küssen mögen, wenn sie an Dir vorbei ging, so viele, jede einzelne von ihnen.
Daran denkst Du und – oh nein! – Du denkst an das Seminar, das sie mit Dir besuchte, und grübelst, was Du dort zur Wortbildung von ‚Gelegenheit‘ gelernt hast, statt an die Bedeutung zu denken: ‚Gelegenheit‘ ist das günstige Zusammentreffen von Umständen und günstiger werden sie nicht mehr. Du weißt, wozu Du jetzt Gelegenheit hättest, Du bräuchtest Dich nur zu ihr beugen. Was Du finden würdest: es wäre Salzgeschmack auf den verkrusteten Lippen, es wäre süßer Speichel und ein williger Mund und vielleicht würde sie Dich nicht sogleich fortschicken, aus dem Rausch erwacht, sondern Dir Gelegenheit geben, Dich zu bewähren an ihrer Seite. Kupplerinnen nannte man auch ‚Gelegenheitsmacherinnen‘. Gelegenheitsmacherinnen für euch sind jetzt das Meer, das Abendrot, das Wellenraunen, der Sommerduft und der Rausch, der eure Glieder schwer und euer Blut hitzig macht. Der Joint, der ihr Blut Wellen schlagen lässt in den Adern, der ihren Schoß aufwühlt, sie schweben macht und Du solltest jetzt, die Gelegenheit am Schopfe packend, Dich hinüberlehnen, zum Kuss Dich beugen, zum ersten. Es ist der geeignete Augenblick.
Statt dessen fällt Dir endlich ein, dass ‚Gelegenheit‘ die Suffigierung eines Partizips ist, und ich sage Dir, der letzte Zug war zu viel für Dich, Du starrst in den sich verdunkelnden Himmel über Dir statt an das Versüßende neben Dir zu denken, Du musst Deine Müdigkeit abschütteln, sofort. Doch Du bleibst benommen, alles ist neblig in Deinem Hirn und Du verstrickst Dich in Deine Gedanken und sinnst nach über Redewendungen – oh nein! – ‚Gelegenheit macht Diebe‘, fällt Dir ein, doch Du solltest an die Erwiderung denken: ‚Geld macht Diebe, Gelegenheit macht Lust und Liebe‘ und Du solltest an den Diebstahl von Küssen denken jetzt, auf jede ihrer Sommersprossen unter der meeressalzigen Kruste.
Denn sonst bin ich es, der Dein Klagen hören muss, wie ich es war, der Deinen Klagen lauschen musste, dass Du sie nicht anzusprechen wagtest, dass sie, die Göttergleiche, die Göttliche, Dir den Lebensmut raube, das Herz bräche, den Verstand stehle. Und letzteres glaube ich gern, wenn Du wegen Deines Nebelhirns diese perfekte Gelegenheit verstreichen lässt statt zu tun, worauf Du schon so lange sehnlichst wartest.
Die Sonne ist jetzt ins Meer getaucht, endgültig, sie sieht nach den Fischen, der Sand ist ausgekühlt unter euch, Du kannst Dich nicht winden aus den Gedanken Deiner Gehirnwindungen und merkst nicht, wie ihr Blut abkühlt und sich das Wellenschlagen in ihrem Schoß beruhigt. Sie steht auf, nurmehr ein wenig schwankend und sagt: „Ich geh‘ jetzt mal wieder zu den anderen!“ und sie zögert nicht.
Ich höre Dein Herz brechen, Du schreckst auf und bemerkst, dass Du sie verpasst hast, die perfekte Gelegenheit, die nie mehr wiederkehrende, die unwiederbringliche, die einmalige. Und darauf wäre selbst Dein Linguistik-Professor nicht stolz.
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